Am Arbeitsplatz

Ursula Werner im Atelier

EIN BESUCH IM ATELIER VON URSULA WERNER

EVA GLAUM

Seit 1997 lernt Ursula Werner bei einem Kalligraphie-Meister in Kyoto. Sie verständigen sich per Post über Dolmetscher oder non-verbal (bei ihren seltenen Begegnungen). Und doch steht sie kurz vor dem Meistergrad in der traditionellen Kunst des SHO, der Kunst des Schreibens.

Bei meinem Besuch zeigt Ursula Werner mir zwei ihrer Kalligraphien, die bereits eine Reise nach Japan und zurück hinter sich haben. Darauf sind in schwarzer Tusche sehr komplexe Zeichen in zwei senkrechten Reihen angeordnet. Teilweise liegen rote Linien spiralförmig darüber oder wie ein Schatten an einem Zeichen: Dies sind die Korrekturen des Meisters. „Der rote Schatten zeigt mir die korrekte Form, die Spirale hier bedeutet: Alles ok. Je mehr Umdrehungen, desto besser“, erklärt sie.

Dann demonstriert sie mir den Schreib-Prozess. Vor meinen Augen entstehen nun diese geheimnisvollen und wunderschönen Zeichen, zuerst in der rechten Spalte, dann links, von oben nach unten. Den Pinsel in die Tusche getaucht, ein kurzer Blick auf die Vorlage: Mal schreibt sie langsam und fest, dann wieder schnell und leicht. In geraden Linien oder Bögen bewegt sie den Pinsel, immer in Bewegungen, die auch weitergehen, wenn der Pinsel vom Papier abhebt, um an einer anderen Stelle wieder aufzusetzen.

Für die Harmonie und Ausgewogenheit der Kalligraphie ist jede Einzelheit wesentlich, auch die Leere zwischen den Linien und Zeichen. Eine verkrampfte Körperhaltung, zu viel oder zu wenig Spannung bilden sich auf dem Papier ab, sogar in den Leerflächen. Für Augen wie meine ist das nicht erkennbar. Der Meister aber kann an den Schriftzeichen ablesen, ob die Körperdynamik beim Schreiben richtig war. Mir bleibt rätselhaft, wie sie aus der Vorlage erkennt, in welcher Reihenfolge und welcher Art die komplizierten Zeichen geschrieben sind. Sie erklärt mir, dass es einige Grundregeln für den Aufbau der Zeichen gibt, und dass außerdem das Ende bzw. der Anfang der nächsten Linie Auskunft darüber geben, welchen Weg dazwischen der Pinsel genommen hat. In China hat sich die Schrift parallel zur Lautung der Sprache entwickelt. Nicht aber in Japan: Weil es dort keine Schrift gab, wurde ca. 500 – 600 n. Chr. über Handelskontakte und kulturelle Beziehungen das chinesische Schriftsystem übernommen. Das seit jeher gesprochene Japanisch musste nun mit dem importierten Schreibsystem kombiniert werden, was diese Sprache hoch kompliziert macht.

Ursula Werner hat mittlerweile etwas Japanisch gelernt, "Pidgin-Japanisch", sagt sie. Doch die Schreibweise der komplexen Zeichen hat sie bei ihren Übungen jahrelang sehr genau studiert. Japanische und chinesische Meister betonen, dass Sprachkenntnisse vielleicht hilfreich, aber nicht nötig seien, um Kalligraphie zu lernen, eine Kunst, die in Asien ein hohes Ansehen genießt. Und bei uns sind die Zeichen als ästhetische und elegante Kunstwerke sehr geschätzt. Im Atelier von Ursula Werner entstehen Kalligraphien von großer Schönheit. Sehr diszipliniert hat sie mehr als ein Jahrzehnt geübt und geübt, für sich, alleine, bis die Körperdynamik, das „Schreibgefühl“ des SHODO, Weg des Schreibens sich immer häufiger auch in ihren freien Arbeiten entfalten konnte, selbst in den manchmal wie zufällig auf dem Papier verteilten Tuschespuren.

„Neben der Annäherung an die klassische Form der Zeichen zielen meine Arbeiten auf das, was man bewusste Bewegung nennen kann“, sagt sie, „eine Pinselführung, die, gestützt auf den Atem und die innere Sammlung mehr und mehr einem fast absichtslosen Tanz des Pinsels gleicht.“